Armut wirkt sich nicht nur finanziell aus, das wissen wir längst. Aber wie läuft so ein Tag wirklich ab? Welche Gedanken, Sorgen und Ängste gehen durch den Kopf? Welche Diskussionen werden geführt, die ohne Armut nie nötig wären? Deshalb nehm ich euch mit zurück ins Jahr 2016. Als Armut Alltag war.
Wie immer beginnt der Tag um 5 Uhr 10. Heute aber ohne Kaffee. Denn dafür hat das Budget einfach nicht mehr gereicht. Diese Woche ist zu wenig übrig geblieben. Also nur Leitungswasser für mich. Und ich bin eigentlich ziemlich unrund ohne Kaffee, aber hilft ja nix. Die älteste Tochter steht auf, wir haben an dem Tag -12 Grad. Ihre Winterjacke vom letzten Jahr hat die besten Tage schon gesehen, und ich weiß welche Diskussion jetzt wieder auf mich zukommt: eine Jacke muss her. Ich weiß Liebes. Ich weiß nur noch nicht woher das Geld dafür abzweigen. Natürlich hast du schon sämtliche Aktionen rausgesucht und 20 Euro sind wirklich nicht die Welt. Aber die fehlen. Versprochen Liebes, bis zum Wochenende hast du eine neue Jacke. Abgespeichert. Gedanklich den Wochenplan durchgehen wo die 20 Euro eingespart werden könnten. Finde (noch) nichts. Aber – wie immer – es wird irgendwie machbar sein. Eigentlich sollte sie heute schon eine warme Jacke haben und keine bei der der Reißverschluss kaputt ist. Und die so billig gemacht ist dass man nicht mal einen neuen einsetzen kann. Eigentlich. Und eigentlich hätte ich schon vor Wochen daran denken müssen. Im Winter wird’s kalt. Logisch. Aber ich habs rausgeschoben. Verdrängt.
Um 5 Uhr 45 gehen wir zum Auto. Hoffen dass es anspringt. Der Bus, mit dem sie dann über 1 Stunde zur Schule fährt, ist 6 km entfernt. Es springt an. Und sie erreicht ihn pünktlich. Glück gehabt. Lange wird das Auto nicht mehr fahren, es hat immerhin schon bald 20 Jahre am Rücken. Es muss. Ein anderes ist nicht drin. Wie sie dann zur Schule kommt? Keine Ahnung. Will auch gar nicht dran denken. Muss aber ständig. Es geht um ihre Zukunft und ich bin dafür verantwortlich. Also muss alles funktionieren. 2014 sind wir aufs Land gezogen weil die Miete in der Stadt nicht mehr leistbar war. Hier ist sie es, aber nur weil es eben keine Öffis gibt. Weil ich für die Kids bis zu 6mal am Tag Elterntaxi spielen muss. Weil es nicht mal einen Gehweg neben der Bundesstraße gibt. Einen Graben. Das wars. Sonst nix. Tja, hätt ich mir das früher überlegt bevor wir hierher gezogen sind. Ja, was wäre dann anders? Wir wären trotzdem nicht in der Stadt geblieben. Unterstützung bei der Wohnungssuchen gab es nicht weil Working Poor. Für Genossenschaftswohnung war unser Einkommen zu gering. Für Private sowieso. Also ab aufs Land. Nein. Selbst wenn ich gewusst hätte wie mies die Öffis hier sind – wir hätten die Wohnung trotzdem genommen. Weil billig.
Zurück in der Wohnung. Die anderen Kids aufwecken. Der Mann kommt erst irgendwann von seiner Nachtfahrt nachhause. Schuljause vorbereiten. Aufbackbrötchen mit Streichkäse und Gurkenscheiben. Die nächste Diskussion. Weil es keine Vollkornbrote sind. Und nur die zählen zur gesunden Jause, erklärt mir der Sohn. Ich weiß. Aber die gab es nicht mehr zum aufbacken und alle anderen sind zu teuer. Also mal wieder viel Überzeugungskunst damit er dennoch die Jause mitnimmt. Er lässt sie zuhause. Im Zimmer. Weil er sich schämt. Weil es nicht das ist was die Klassenlehrerin möchte. Ich weiß. Und ich würd ihm am liebsten jede gesunde Jause gönnen die er möchte. Aber es geht nicht. Also weiter Brötchen schmieren für die Mädels. Nebenbei sagt mir eins der Mädels dass sie diese Woche noch Brot mit Butter und Kresse mitnehmen müsste. Für die ganze Klasse. Jede*r Schüler*in hat eine Liste an Lebensmittel bekommen, die sie mitnehmen müssen. Sie gestalten gemeinsam eine Jause für alle. Toll. Also wieder umschichten. Abgespeichert. Zusätzlich zur Jacke. Und zu den 38 Euro die bis Freitag die Jüngste braucht für einen Theaterausflug samt Bus.
Es ist 7 Uhr. Mein Herz rast. Ich bringe die Kinder in ihre Schulen. Auf dem Heimweg kurzer Blick auf die Tankanzeige. War klar. Die nächsten 10 Euro weg. Hätte damit rechnen müssen. Ist ja nicht neu. Trotzdem.
Zuhause angekommen gleich mal rüber zum Vermieter. Für den ich koche, putze und mit den Kids Hausaufgaben mache. Er ist alleinerziehend. Und ich bezahl dadurch weniger Miete. Ist es angemeldet? Natürlich nicht. Gibts aktuell eine andere Option? Nein. Jobs am Land, die zu den Betreuungszeiten der Kids passen und die geeignet für ein chronisch krankes Kind sind, das keine drei vollen Tage Schule durchhält – die sind rar. Also geh ich rüber. Versuch seine herablassenden Witze zu überhören. Seine Erläuterungen darüber wer arm ist mache doch nur was falsch oder sei zu faul. Während ich seinen Dreck wegputze. Und ja, der konnte Dreck machen. Diskussionen darüber ich solle doch einfach das Auto hergeben, das würde meine Kosten reduzieren. Die Kinder müssten nicht in eine höhere Schule oder ein Gymnasium gehen, konnte er schließlich auch nicht. Ich antworte gar nicht mehr. Versuch nur so schnell wie möglich fertig zu werden.
Gegen Mittag geh ich wieder rüber, am Briefkasten vorbei. Aufmachen? Oder warten? Hab ich grad die Nerven dafür? Hilft ja nix. Ah, ok, Strom konnte nicht abgebucht werden. Und Haushaltsversicherung ist seit drei Monaten überfällig. Ich gebe es später dem Mann. Seine Angelegenheit. Also meistens. Es wird Zeit die Kids zu holen. Um 12.30, um 13.30 und um 15 Uhr. Tolle Zeiten. Also in der Stadt die Zeit vertreiben. Es ist kalt. Hilft nix. Wir gehen spazieren. Irgendwo reinsetzen mit der Jüngsten und wärmen, eine heiße Schokolade trinken oder einen Kaffee (ihr erinnert euch – ich hatte seit dem aufstehen keinen) ist nicht drin. Extra nach Hause fahren und dann wieder in die Stadt aber auch nicht. Also warten. Und frieren. Im Frühling macht es mehr Spaß.
Schließlich gehen wir zusammen einkaufen. Der erste Weg ist zum -50% Regal. Je nachdem was dort vorhanden ist richtet sich der Speiseplan der nächsten Tage. Nicht danach worauf wir Gusto haben. Wann war es eigentlich das letzte mal das wir wirklich etwas hatten weil wir es einfach wollten? Ich kann mich nicht mehr erinnern. Der Einkauf ist schnell erledigt, nach der Kasse meint eine Frau ich hätte so wohlerzogenen Kinder weil sie nicht „wie so viele anderen“ jammern würden wegen Süßigkeiten. Am liebsten hätte ich geantwortet dass das nichts mit wohlerzogen zu tun hat sondern dass sie sich einfach nichts mehr wünschen weil sie wissen dass es nicht leistbar ist. Habs dann gelassen, keine Kraft mehr für Diskussionen.
Es ist inzwischen finster. Brot, Butter und Kresse hab ich. Sogar Vollkornaufbackbrötchen. Und die Kinder freuen sich weil sie mal „das richtige“ mithaben werden in der Schule. Ich schäme mich. Es sollte normal sein und kein Grund zur Freude. Zieh mich an und geh mit dem Hund. Eine lange Runde durch den Wald. Atmen. Und weinen. Weil ich noch keine Ahnung hab woher das Geld für die Jacke nehmen.
Nach und nach gehen die Kids ins Bett, ich möchte nicht. Unser Zimmer ist unterm Dach, schlecht isoliert und in manchen Nächten, so wie heute, steigt die Temperatur nicht über 12 Grad. Zumindest die Kids unten haben es warm. Ich möchte doch einfach nur normal arbeiten gehen können, normal verdienen, ein normales Leben führen. Möchte nicht jeden Abend Angst davor haben was der nächste bringt. Und ob das Auto durchhält. Oder der Herd. Möchte nicht dass sich die Kinder über Dinge freuen die selbstverständlich sein sollten. Möchte keinen Luxus. Aber Normalität. Auch an diesem Abend lieg ich wieder mindestens bis 2 Uhr wach. Mein Herz rast. Wie lange schafft man es mit dieser Anspannung zu übersehen bevor man zusammenbricht? Darf nicht darüber nachdenken. Also hol ich wieder die abgespeicherten Sachen hervor. Ausflug, Jacke. Winterreifen sind auch längst überfällig. Aufhalten dürfen sie mich nicht. Und Weihnachten kommt. Ich hasse diese Jahreszeit. Obwohl ich sie eigentlich liebe. Aber Armut hat mich dazu gebracht.