Armut und die immateriellen Folgen für Kinder

Normalerweise ist mir wichtig, Armut und die Folgen in eigenen Worten zu erklären. Doch diesmal möchte ich euch einen Auszug aus dem Handbuch „Kinder stärken“der Volkshilfe ans Herz legen. Im Kapitel „Resilienzförderung als Weg der Wahl“ werden im Abschnitt „aufwachsen in Armut als zentrales Entwicklungsrisiko“ die Unterschiede zwischen einem aufwachsen in einem durchschnittlichen Haushalt und jenem in einem vom Armut betroffenen Haushalt ausführlich beschrieben. Und ich kann so gut wie alles entweder aus eigener Erfahrung oder durch die vielen Gespräche der letzen Jahre bestätigen.

https://www.volkshilfe.at/fileadmin/user_upload/Media_Library/PDFs/Ratgeber_Broschueren/Handbuch_Kinder_staerken.pdf

Aus dem Handbuch:

Die Handlungsspielräume von in Armut aufwachsenden Kindern sind – bedingt durch die familiäre materielle Situation – dermaßen eingeengt, dass längerfristig Entwicklungsmöglichkeiten entscheidend beeinträchtigt sein können und die Bewältigung der altersgemäßen Entwicklungsaufgaben unter erschwerten Bedingungen erfolgen muss . Armut hat nicht nur eine materielle, sondern auch eine immaterielle Seite, denn sie ist ein permanenter psychischer Belastungsfaktor . Materielle Defizite gehen mit immateriellen Folgen einher .

Noch nie hat es nun aber eine Gesellschaft gegeben, in der so viele Kinder in materiellem Wohlstand auf- gewachsen sind, während gleichzeitig in den meisten Staaten Westeuropas Kinderarmut auf kontinuierlich hohem Niveau existiert! Um zu ermessen, was dieses Gefälle für die von Armut betroffenen Kinder bedeutet, sollten wir uns zunächst vor Augen führen, was heute in einer westeuropäischen Wohlfahrtsgesellschaft als „normaler Lebensstandard“ für eine „durchschnittliche Kindheit“ gilt . Nehmen wir beispielsweise die Lebens- situation eines Grundschulkindes:

Die meisten Kinder wohnen mit ihren leiblichen Eltern in einer relativ gut ausgestatteten Wohnung, manche sogar in einem eigenen Haus mit Garten . In der Regel haben Kinder ab einem bestimmten Alter ein eigenes Zimmer, das nach ihren Wünschen und Vorstellungen eingerichtet ist . Sie werden von ihren Eltern materiell ausreichend mit allem versorgt, was sie brauchen, Wünsche bleiben selten lange offen . Auf ihre Gesundheit wird ge- achtet, ihr Alltag ist geregelt, sie werden morgens geweckt, bekommen ihr Frühstück, und das Pausenbrot liegt bereit . Wenn sie hungrig von der Schule nach Hause kommen, steht das Mittagessen schon auf dem Tisch oder zumindest zum Wärmen auf dem Herd . Der Nachmittag ist – soweit es die schulischen Hausaufgaben erlauben – angefüllt mit mehr oder weniger vom Kind gewählten Freizeitaktivitäten, wie Musikunterricht, Judo, Fechten, Tanzen, Reiten, Klettern und was es sonst noch gibt, wenn nötig, ist auch Nachhilfeunterricht organisiert . Oder es warten Verabredungen mit Freunden, mit denen man sich da oder dort Zuhause trifft . Neuerdings dürfte al- lerdings die Beschäftigung mit Neuen Medien so manches traditionelle musische oder sportliche Angebot unat- traktiver erscheinen lassen . Selbstverständlich gibt es regelmäßiges Taschengeld, das altersgemäß gestaffelt ist . Es kursieren sogar Listen mit Empfehlungen zur gestuften Höhe des wöchentlichen Kinder-Taschengeldes . Zur Normalität heutigen Kinderlebens zählen auch gemeinsame Freizeitaktivitäten mit der Familie, wie Ausflüge, Kino- und Theaterbesuche oder gemeinsame sportliche Aktivitäten – und nicht zuletzt gemeinsame Urlaube .


Die Kehrseite des Wohlstands ist die Armut.Das gilt weltweit und gerade auch innerhalb reicher Gesellschaften. Selbst wenn bei uns in Familien, die wir als arm bezeichnen, in der Regel das Notwendigste zum Überleben vorhanden ist, herrscht hier dennoch an allen Ecken und Enden Mangel . Die Versorgung dieser Kin- der weicht jedenfalls erheblich von dem ab, was wir gemeinhin als Normalität voraussetzen . Dazu einige Aus- sagen von Kindern aus armen Familien, die uns Einblick in ihre von Knappheit gezeichnete Alltagrealität geben:

Ernährung: Patrick etwa geht morgens ohne Frühstück zur Schule, “weil er und seine Mutter früh los müssen“ – wie er es darstellt . Er nimmt kein Pausenbrot mit, weil er es „vergisst oder manchmal keinen Hun- ger hat.“ Das hört sich allerdings sehr nach Schutzbehauptung an! Wenn schon kein Frühstück, dann würde ihm sicherlich ein Pausenbrot munden . Einige Eltern, so auch Patricks Mutter, können das Essensgeld für die Schule oder den Hort schlicht nicht aufbringen . Die Kinder räumen das fehlende Mittagessen dann nur ungern ein oder versuchen es mit mangelnder Qualität des außerhäuslichen Essens zu begründen: „schmeckt mir nicht“ – oder mit fehlendem Appetit . Das Thema ist ihnen peinlich . In manchen Fällen werden Engpässe bei der Ernährung durch verwandtschaftliche Netze ausgeglichen: Wenn nichts zum Essen im Haus ist, springt bei Melanie und ihren Geschwistern die Oma ein, die nebenan wohnt . Selten – aber es kommt wohl vor – werden gemeinnützige Angebote genutzt: So berichtet Patrick, dass er ab und zu „mit dem Opa zur Jenaer Tafel“ geht . Patrick: „weil wir haben nicht so viel Geld wie die anderen und das find ich eben blöd, weil wir das ganze Geld für das Essen ausgeben müssen und für Wohnen…und dann haben wir nichts mehr zum Essen. Und das find ich blöd.“ Und Detlevs Eltern – eine Familie mit sieben Kindern – geben an, dass sie beim Essen das Billigste vom Billigsten kaufen . Hauptsache alle Mäuler werden satt, ob es nun gut schmeckt oder gar gesund ist, sol- che Fragen kann man sich nicht leisten .

Kleidung: Auch bei der Kleidung wird häufig gespart, indem auf gebrauchte Stücke, etwa aus der Klei- dersammlung, zurückgegriffen wird – die Eltern haben dazu in der Regel eine andere Sicht als ihre Kinder: „Hauptsache sauber und er läuft nicht rum wie ein Lumpensack“, so Olivers Mutter . Die meisten der von uns befragten Kinder gaben an, dass sie aber „gerne auch so coole Klamotten wie die anderen“ hätten. Auch Oli- ver (7 Jahre) sagt das, obwohl seine Mut-ter glaubt, er wisse nicht einmal, was Markenklamotten sind . Die meisten der Sieben- bis Zehnjährigen äußern spezifische Kleidungswünsche, die ihre Eltern ihnen aber nicht erfüllen können . So möchte Angelique gerne Schlaghosen, Plateauschuhe und modische Pullis haben – die Mutter nutzt aber das Kleiderangebot des Selbsthilfevereins, den sie mit gegründet hat . Oder Kevin: Er hat sich zum Geburtstag einen Fußballanzug gewünscht, den er leider nicht bekommen hat, und tröstet sich damit: „wenn die Mutter wieder Geld hat“.

Kinderzimmer: Die Mehrzahl der von uns interviewten Kinder hat kein eigenes Zimmer . Sie müssen sich also das Kinderzimmer mit einem Geschwisterkind oder gar mit mehreren teilen; das führt häufig zu Streit und Reibereien, wenn es Unstimmigkeiten wegen der Zimmereinrichtung oder der Zimmernutzung gibt . Viele wün- schen sich eine größere Wohnung, mehr Platz zum Spielen oder in einem Fall ein eigenes Zimmer für die Mut- ter – damit sie den Streitigkeiten mit dem Vater aus dem Weg gehen kann, meint Angelique .

Freundinnen und Freunde: Andere Kinder mit nach Hause zu bringen, ist bei vielen nicht drin: zum einen wegen der Enge der Wohnung, und zum anderen, weil die Eltern – aus welchen Gründen auch immer – Kin- derbesuch ablehnen, häufig wohl weil sie die beengten Wohnverhältnisse nicht nach außen zeigen wollen . Au- ßerdem hatten die von uns befragten Mädchen und Jungen in manchen Fällen auffällig wenig enge Freunde . Auch hinsichtlich ihrer Möglichkeiten, soziale Kontakte zu knüpfen und Freundschaften zu pflegen, sind arme Mädchen und Jungen häufig benachteiligt, weil sich ihnen im Vergleich zu anderen Kindern weniger Mög- lichkeiten dazu bieten . So antwortet beispielsweise Vincent auf die Frage, wer für ihn arm ist: „Wenn jemand ganz viele Wünsche hat, die er sich nicht erfüllen kann und nicht von anderen verehrt wird…“ und ein anderer Junge formuliert die Ablehnung, die er durch bessersituierte Gleichaltrige erfährt: „…wenn man von den Rei- chen gehasst wird.“ Da der Bewegungsspielraum dieser Kinder meist auf die Schule und die engere Nachbar- schaft eingeschränkt ist, eröffnen sich ihnen weniger Gelegenheiten, Freundschaften zu schließen . Nicht we- nige Grundschulkinder eines Projektes in Saarbrücken-Malstatt, einem sozialen Brennpunkt, waren noch nie über ihren eigenen Stadtteil hinausgekommen (vgl . iSPO 2006) .6

Gesundheit: Sowohl Defizite in der Ernährung als auch in der Wohnsituation – wenn etwa im Winter nicht ausreichend geheizt werden kann – und nicht-witterungsgemäße Kleidung haben zur Folge, dass arme Kinder öfter krank sind . Darüber hinaus treten bei ihnen häufiger als etwa bei Mittelschichtkindern psychosomatische Symptome auf: Nervosität, Gereiztheit, geringe Konzentration, Kopfschmerzen, Bauchschmerzen oder Bettnäs- sen . Derartige Leiden beeinträchtigen nur zu offensichtlich das physische und psychische Wohlbefinden der Kinder .

Zugang zu Bildung und zu eigenen Talenten: Die Schilderung von Differenzerfahrungen dieser Kin-
der könnte fortgesetzt werden, indem man auch Einschränkungen in anderen Lebensbereichen beleuchtet, wie etwa ihren oft begrenzten Zugang zu Bildung . Damit meine ich nicht nur, dass „arme Kinder“ häufiger auf Schultypen verwiesen werden, die ihnen später nur eingeschränkte Berufsmöglichkeiten eröffnen, was sich statistisch nachweisen lässt . Im Vergleich zu ihren besser situierten Gleichaltrigen fehlt es ihnen zudem oft an Möglichkeiten, eigenen Fähigkeiten und Neigungen nachzugehen und eigene Talente auszubauen: So wollte beispielsweise ein Mädchen aus unseren Interviews gerne Geige spielen lernen, was aber finanziell nicht drin war, einem Jungen, der gerne Ballett tanzen würde, musste die Mutter diesen Wunsch abschlagen, ein ande- rer Junge wünschte sich so sehr, mit seiner Mutter einmal verreisen zu können, nach Italien oder Spanien oder einfach nur ans Meer .

Spielzeug: Auch beim Spielzeug bleibt so mancher Wunsch unerfüllt . Nicht selten aber haben wir hier ein paradoxes Verhalten der Eltern festgestellt, demzufolge – um nach außen die familiäre Geldknappheit zu ver- decken – „Prestigeobjekte“ angeschafft werden, wie eine Playstation oder gar ein Handy, damit die Kinder mit Gleichaltrigen mithalten können .

Taschengeld: Taschengeld ist für Mädchen und Jungen – spätestens ab dem Schulalter – gemeinhin Usus und aus zwei Gründen von Bedeutung: einmal, damit sie sich gegenüber Gleichaltrigen nicht zurückgesetzt fühlen, und zum anderen, um den Umgang mit Geld zu erlernen . Nur wenige der von uns interviewten Kinder bekamen aber regelmäßiges Taschengeld – ab und zu gab es Geldgeschenke von den Eltern als Belohnung oder von Verwandten . Interessanterweise überspielen die Kinder auch hier die Mangelsituation: Die Frage, ob ihnen das Taschengeld reiche, bejahten teilweise auch diejenigen Kinder, die an anderer Stelle angegeben hat- ten, dass sie keines bekämen . Patrick z .B . sagt, dass er kein eigenes Geld erhielte, weil er es nicht annehme: „Nur, weil meine Mutti nicht so viel hat. Da will sie mir immer was anbieten, da sag ich, nee behalt das Geld für Dich.“ Auch Jessica zeigt Verständnis dafür, dass es nicht regelmäßig Taschengeld gibt, und bei Melanie wandert das Taschengeld direkt in die Sparbüchse für irgendwelche Sonderausgaben .

Selbstwertgefühl, Selbstvertrauen, Selbstbewusstsein: Aufwachsen in Armut, vor allem in chronischer und langandauernder Armut, kann bei den betroffenen Kindern das Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein empfindlich schmälern . So neigten nicht wenige der von uns befragten Mädchen und Jungen zu einem negativen Selbstbild . Noch mehr als gesundheitliche Schäden dürfte sich dieses Empfinden von eigener Minderwer- tigkeit zeitlebens in die Biografie solcher Kinder tief eingraben . Wer sich verstecken muss und sich nicht von seiner stärksten Seite zeigen kann, fühlt sich minderwertig und verliert das nötige Vertrauen zu sich selbst .

Wie gehen nun Kinder mit diesen Belastungen um?

Psychologisch gesehen kann man zwei grundsätzlich verschiedene Bewältigungstypen feststellen: Kinder, die eher nach Strategien suchen, um das Problem für sich in der einen oder anderen Weise zu lösen, und sol- che, die eher die Augen davor verschließen, es verdrängen und Vermeidungsstrategien an den Tag legen (vgl . Richter 2000) .

So treffen wir einerseits auf Kinder, die das Problem mit sich selbst ausmachen, sei es nun durch Sen- kung eigener Ansprüche oder durch Rückzug in innere Welten . Ein solches Kind äußert dann erst gar nicht den Wunsch, wie andere Gleichaltrige gekleidet zu sein, oder flüchtet sich in Fantasiewelten, in denen es keinen Mangel leidet . Ein anderer Weg führt über Ersatzhandlungen, bei denen ein Kind gewünschte Dinge entweder abwertet oder impulsiv Ersatzobjekte konsumiert, also zu Strategien greift, die wohl irgendwie kompensieren, das eigentliche Problem aber „überspringen“ . Dazu ein Beispiel: Ein Junge würde gerne auf die Kirmes gehen und Autoscooter oder Achterbahn fahren . Da sein Taschengeld dazu nicht reicht, begnügt er sich mit einem „Lutscher“ und betrachtet das bunte Treiben aus einer beobachtenden Position .

Andererseits findet man Kinder, die sich in mehr oder weniger kluger Form der Lage stellen . Solche Kinder suchen emotionale Unterstützung, schauen sich nach Hilfe um und verhalten sich selbst anderen gegenüber solidarisch, dürfen dann im Gegenzug aber auch selbst Hilfe erwarten . Heftiger geht es demgegenüber zu, wenn ein Kind das Problem an die Umwelt weiterreicht, indem es sich nach außen entlastet, vielleicht sogar aggressiv wird, klaut oder andere betrügt, eine eher Jungen zugeschriebene Strategie .


Wer bis hierher gelesen hat – danke. Es ist wichtig dass wir viel über die Folgen von materieller Armut wissen, aber genauso wichtig ist es sich der immateriellen Folgen bewusst zu werden. Denn dieses Bewusstsein ändert unser eigenes Denken, Wahrnehmen und auch Handeln. Wer für Armut sensibilisiert ist wird sie nicht mehr übersehen sondern wahrnehmen. Und genau das braucht es.

Noch eine persönliche Anmerkung: bevor ich vor mittlerweile 5 Jahren mit unserer Situation an die Öffentlichkeit gegangen bin war vieles von dem oben beschriebenen Teil unseres Alltags. Auch danach noch eine zeitlang, bis wir endlich wieder über der Armutsgrenze waren. Doch mit einem riesigen Unterschied: ich musste das alles nicht mehr mit mir alleine herumtragen, war nicht mehr isoliert, zurückgezogen, hatte plötzlich wieder soziale Kontakte, Rückhalt und Bestärkung sowie Austausch. Als Eltern sieht man täglich die Grenzen der Handlungsspielräume, denen die eigenen Kinder ausgesetzt sind und es zerfrisst dich. Erst mit meinem Weg an die Öffentlichkeit wurde mir einerseits bewusst wie vielen es ähnlich ergeht und andererseits hab ich mehr und mehr über die strukturellen Hintergründe zu Armut sowie über die Folgen von Beschämung gelernt. Dies hatte zur Folge Armut nicht mehr als quasi handlungsunfähige, passive Betroffene zu sehen sondern einen neuen Blickwinkel zu entwickeln. Darüber zu sprechen, die fehlenden Chancen und Ressourcen zu benennen, die psychischen Belastungen anzusprechen und sich deren bewusst werden, dies alles nicht mehr als einfach gegeben hinnehmen weil man vielleicht doch selbst schuld dran sei – all das hat aus mir eine Person gemacht die aktiv geworden ist. Und selbstbewusster. Beschämung hat seitdem keine Chance mehr, aber nicht nur bei mir, sondern auch bei den Kindern. Natürlich bin ich nur ein kleines Beispiel von vielen, aber wenn wir es schaffen der Beschämung die Macht zu nehmen wäre das mit ein Schritt um armutsbetroffene Kinder zu stärken.


Aufklärungsarbeit ist übrigens eine Menge Arbeit 🙂 und das meiste davon unbezahlt. Abends, an den Wochenenden. Wer wert schätzt was ich mache und es unterstützen möchte damit ich weiterhin unabhängig arbeiten kann, kann dies gerne hier tun:

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